FRANCESCA ALLINSON

20. August 1902 - 7. April 1945

 

Musikerin, Musikwissenschaftlerin, Schriftstellerin

 

 

Francesca (Fresca) Allinson - eigentlich Enid Ellen Pulvermacher Allinson - kam in einer fortschrittlich denkenden und wohlhabenden Familie zur Welt. Ihr Vater Thomas Richard Allinson, ein für seine Zeit sehr vorausschauender Arzt und Ernährungsreformer, trat für die Gleichberechtigung von Frauen ein, für Geburtenkontrolle, und schrieb u. a. "Allinsons Vegetarian Cookbook" (1912 / Neuauflage 2018); außerdem war er Geschäftsmann (Allinson Flour Mill) und von 1911 bis 1914 Eigentümer des Wochenmagazins Vanity Fair. Ihre Mutter Anna Pulvermacher Allinson stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie, hatte in Berlin Porträtmalerei studiert, an der Royal Academy ausgestellt, und unterstützte die Bemühungen ihres Mannes, gesunde Ernährung populär zu machen. Francesca (eigentlich Enid Ellen) Allinson hatte drei Brüder und eine Schwester - die Vornamen der Kinder waren in der Reihung ihrer Geburt alphabetisch: der älteste Adrian besuchte die Slade School of Art, war Schulkollege von Dora Carrington - Malerin und Lebensgefährtin von Lytton Strachey -, hatte eine Beziehung mit der Schriftstellerin Jean Rhys und wurde als Maler bekannt; Bertrand wurde Arzt und war Vorsitzender der Vegetarian Society; Cyril übernahm die Allinson Flour Mill;  Dulcie starb noch im Jahr ihrer Geburt.
Francesca war sprachbegabt, sie studierte Englisch und Musik an der Lady Margaret Hall in Oxford und am Royal College of Music und interessierte sich besonders für die Folkmusik der britischen Inseln. Sie lernte den Musiker, Komponisten und sozialistischen Pazifisten Michael Tippett (1905 - 1998) kennen als er seine Cousine Phyllis Kemp besuchte, die gerade im Londoner Haus der Allinsons in der Christchurch Avenue wohnte. Sein erster Eindruck von Francesca war der große Kropf an ihrem Hals, unter dem sie sehr lange litt und den sie sich schließlich in der Schweiz operieren ließ; sie fühlten sich voneinander angezogen und es entstand eine enge, zärtliche, wegen der homosexuellen Neigungen beider, auch komplizierte Freundschaft. Tippett sprach mit ihr über seine sexuellen Probleme, gemeinsam diskutierten sie über Ehe und Familie - die sie sich wünschten - und sie dachten sogar an ein Kind von einem anderen Mann oder an eine künstliche Befruchtung. In ihrer gemeinsamen Beziehung sahen sie auf jeden Fall eine Basis für ihr Leben.
Da Francesca gut deutsch sprach - ihr Kindermädchen Clara Barkow stammte aus Deutschland -, ersuchte sie Tippett Anfang der 1930-er Jahre um ihre Mitarbeit an einem Workshop beim Workcamp von Boosbeck in North Yorkshire; dort trafen StudentInnen der deutschen Wandervogel-Bewegung mit den arbeitslosen Minenarbeitern zusammen und versuchten in Kursen und Veranstaltungen das Leben der einheimischen Bevölkerung zu bereichern. In Boosbeck war auch ein Berliner Marionettenspieler, für dessen Arbeit sich Francesca interessierte. Der anschließende Urlaub mit Tippet - sie fuhren nach Bayern, wanderten vier Tage über das Riesengebirge, schliefen in Heuschobern und fühlten sich frei von allen Konventionen  - führte sie auch nach Prag, wo Francesca verschiedene Marionettentheater und alle Barockkirchen besuchte, während Tippett in der Moldau schwamm. Nach einem Aufenthalt in Dresden - sie sahen sich Rossinis "Barbier von Sevilla" in der Semper Oper an - trennten sich ihre Wege: Tippett fuhr zurück nach England, Francesca blieb bei Freunden in Deutschland.
Beim Boosbeck Workcamp 1933 inszenierte Tippett eine Version von "The Beggar’s Opera": die Rolle des Macheath spielte der Milchmann von Boosbeck, die Rolle der Polly eine Bergarbeiterstochter, und Francesca übernahm die Rolle der Lucy. Ihr Interesse am Puppenspiel verband sie mit ihrer Arbeit als Chorleiterin des New Oxford Music Choir: dort  inszenierte sie mit Handpuppen eine Version von Orazio Vecchis Madrigalkomödie "L’Amfiparnasso". Sie war auch Chorleiterin des Arbeitermusikvereins Clarion Glee Club, der vom linksgerichteten Komponisten Rutland Boughton gegründet worden war, schrieb für das Musical "Don Quixote" von Henry Purcell das Libretto und das Vorwort zu Orlando Gibbons "Londoner Straßenrufe / London Street Cries" (B. Schott & Söhne, Mainz / Associated Music Publishers, New York, 1933).
Durch ihre kulturpolitischen Aktivitäten lernte sie die Schauspielerin Judy Wogan kennen, die 1930 das alternative Londoner Grafton Theatre gegründet hatte und in der Arts League of Service aktiv war, einer Kulturorganisation, die Kunst und Theater einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Francesca freundete sich mit ihr an und lebte zum Teil in Judith Wogans Haus in St. Osyth, wo sie auch an ihrem Buch "A Childhood" zu schreiben begann.
Francescas Wunsch, schriftstellerisch tätig zu sein, hatte wohl auch mit ihrer Begeisterung für Virginia Woolf und ihr Werk zu tun; durch ihre Freundin Enid Marx lernte sie Alice Ritchie kennen - Mitarbeiterin der Hogarth Press -, die einen Kontakt zum Verlag herstellte. Im Oktober 1937 erschien in der Hogarth Press "A Childhood": im Klappentext ersuchte sie ihre Leser, mit der Hauptfigur Charlotte - deren Entwicklung zwischen neun und fünfzehn erzählt wird - geduldig umzugehen, denn diese fühlt und handelt so wie ein Großteil ihrer AltersgenossInnen. Das Buch widmete sie Judy Wogan; Enid Marx gestaltete den Buchumschlag und illustrierte die Kapitelanfänge mit Holzschnitten. "A Childhood" wurde von der Presse positiv rezensiert, wobei man vor allem auf die klare und frische Sprache hinwies, mit der Gefühle, Gedanken und Erleben einer heranwachsenden Jugendlichen den LeserInnen nahe gebracht werden.
Francescas Forschungsschwerpunkt lag im Bereich der Folksongs; in ihrer Arbeit stellte sie die Behauptung Cecil Sharps über die ethnische Reinheit englischer Folksongs in Frage: sie verglich seine Melodien mit denen im "Fitzwilliam Virginal Book", in "The Beggar’s Opera" und in Chappell’s Sammlung "Popular Music of the Olden Time" und kam zu der Schlussfolgerung, dass sie infolge der Emigration von Arbeitern während der industriellen Revolution stark von der irischen Folkmusik beeinflusst waren. Ihre Bitte an Vaughan Williams, das Vorwort für ihre Studie zu schreiben, wurde von diesem abgelehnt: er war empört, dass sie an der "Reinheit" der englischen Folksongs zweifelte. Ihr umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet kam auch Tippett zugute: sie half ihm die richtigen Melodien für sein Kinderstück "Robert of Sicily" zu finden. Francescas Monographie über den Einfluss irischer Musik auf traditionelle englische Melodien konnte durch ihren frühen Tod nicht mehr beendet werden und auch die Bemühungen Tippetts, das Werk für die Veröffentlichung fertig zu stellen, scheiterten.
Verängstigt durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verließ sie London und beteiligte sich an einem Projekt in der Nähe von East Grinstead in West Sussex: durch Ankauf von Land für die landwirtschaftliche Nutzung sollte Kriegsgegnern die Möglichkeit gegeben werden, als Landarbeiter dem Militärdienst zu entgehen. East Grinstead hat im Zweiten Weltkrieg eine traurige Bekanntheit erlangt: es wurde durch die deutsche Luftwaffe als Sekundärziel für Bomber bestimmt, denen es nicht gelungen war, London zu bombardieren. Ein solcher Bombenangriff tötete im Juli 1943 über hundert Zivilisten, die gerade das Kino besuchten.
Wenn ihre Angst vor Bombardierung zu groß wurde, fuhr Francesca zu Tippett, der in Oxted, nördlich von East Grinstead, ein Haus hatte, blieb aber nie länger als vierzehn Tage. Nach Zerfall der Kommune in East Grinstead, zog sie sich in ihr Londoner Zuhause in Mornington Crescent zurück, das von einem ehemaligen Kindermädchen betreut wurde. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand - wohl als Folge ihrer Struma-Erkrankung - verschlechterte, entschloss sie sich, zu ihrem Bruder Cyril zu ziehen, der mit seiner Frau Veronica im Mill House, in der Nähe von Streetly End / Cambridgeshire wohnte: der Bauernhof war kaum kultiviert - ihr Bruder arbeitete in der Allinson Flour Mill -, und wurde vom War Agricultural Committee übernommen, das Lastwägen mit Wehrdienstverweigerern dorthin brachte, um Zuckerrüben anzubauen.
Tippett besuchte Francesca zwar selten, beide schrieben sich aber zahlreiche Briefe, aus denen hervorgeht, wie wechselnd ihr Gesundheitszustand war, psychisch wie physisch: sie war depressiv, konnte ihre Arbeit an der Monographie nicht beenden, hatte Angst vor der Nachkriegszeit, wollte diese nicht als hilfloser Mensch erleben, glaubte die Chance für eine erfüllte Liebesbeziehung in ihrem Leben vertan zu haben. Obwohl ihre Familie sehr auf sie achtete, konnte sie sich im Frühling 1945 ihrer Aufsicht entziehen, fuhr nach Clare / Suffolk und stürzte sich von einer Brücke in den River Stour. Sie hinterließ zwei Briefe: einen an Tippett und einen an ihre Freundin Judy Wogan.
Michael Tippett war über den Tod Francesca Allinsons zutiefst schockiert: es wurde ihm bewusst, wie sehr er sie geliebt hatte, ihre Fröhlichkeit, ihre Güte, ihre Liebe zu schönen Dingen, sogar ihre Launenhaftigkeit. Er verarbeitete seine Emotionen in dem Liederzyklus "The Hearts Assurance" und widmete ihn Francesca Allinson und allen Opfern des Krieges. 1938 hatte er ihr bereits sein Klavierstück "Fantasy Sonata" gewidmet.


Literatur-  und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986
Sybil Oldfield (Ed.): Afterwords. Letters on the Death of Virginia Woolf. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2005
Michael Tippett: Those Twentieth Century Blues. An Autobiography.  Pimlico, Random House, London 1991
Helen Southworth: "Perfect Strangers? Virginia Woolf and Francesca Allinson". In: Virginia Woolf Bulletin. Issue No. 39, January 2012
www.modernistarchives.com/person/francesca-allinson
en.wikipedia.org/wiki/Michael_Tippett
en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Allinson
P-S. Brown: Medically qualified naturopaths and the general medical council. In: Medical History, 1991, S. 50-77 (pdf)
spartacus-educational.com/ARTallinson.htm
de.wikipedia.org/wiki/East_Grinstead

arts.brighton.ac.uk/collections/design-archives/resources/rdis-at-britain-can-make-it,-1946/enid-marx


Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien eine Online-Ausgabe von

"Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen illustrierenden Hintergrundtexten:

 

autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press


 

Das 448 Seiten starke Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (Seitenformat A4).

 


Thomas Richard Allinson

Francesca Allinsons Vater Thomas Richard Allinson in Vanity Fair, 4 October 1911.

Francesca Allinson

Francesca Allinson als Sechzehnjährige

Adrian Allinson

Francescas ältester Bruder, der Maler, Keramiker  und Graveur Adrian Allinson (1890–1959).

Michael Tippett

Francescas Freund und "Lebensmensch", der Musiker, Komponist und Pazifst Michael Tippett (1905–1998).

"A Childhood" erschien im Oktober 1937 in der Hogarth Press. Der Umschlag wurde von Enid Marx entworfen, die auch die Kapitelanfänge mit Holzschnitten illustrierte. Das Buch hatte einen Umfang von 187 Seiten und eine Auflage von 1200 Stück .

Enid Marx

Die Grafikerin und Textildesignerin Enid Marx (1902–1998) stand der Arts-and-Crafts-Bewegung nahe; sie fertigte Stoffdrucke und Textilentwürfe an,  arbeitete als Grafikerin und Illustratorin, designte Keramik und Tapeten, lehrte an der Ruskin School of Art in Oxford, an der Bromley School of Art in Kent  und  am Croyden College of Art in London. Gemeinsam mit Margaret Lambert veröffentlichte sie  "English Popular and Traditional Art" und "English Popular Art" (Neuauflage 2007).

Helen Southworth's 340 Seiten umfassende Biografie "Fresca - A Life in the Making. A Biographers Quest for a Forgotten Bloomsbury Polymath" erschien im Juli 2017  in der Sussex Academic Press.


Francesca Allinson - Veröffentlichungen (Auswahl):

Vorwort zur Partitur "Orlando Gibbons: Londoner Straßenrufe / London Street Cries". B. Schott & Söhne, Mainz / Associated Music Publishers, New York 1933

A Childhood. Hogarth Press, London 1937

Libretto zu "Henry Purcell: Don Quixote", Aufführung Jänner 1938, Little Theatre, Broadway, New York

The Irish Contribution to English Traditional Tunes. Unpublished


Bildnachweis:

Thomas Richard Allinson: Vanity Fair, 4 October 1911, by RAY (anonymous). commons.wikimedia.org/wiki/File:Allinson_TR_Vanity_Fair_1911-10-04.jpg

Francesca als Sechzehnjährige:

www.modernistarchives.com/person/francesca-allinson

Adrian Allinson: alchetron.com/Adrian-Allinson#-

Michael Tippett: www.interlude.hk/front/britten-and-tippett-two-kinds-of-englishman/

Enid Marx: en.wikipedia.org/wiki/File:Photo_of_Enid_Marx.jpg