MURIEL "JIM" JAEGER

23. Mai 1892 – 21. November 1969

 

Schriftstellerin, Journalistin, Historikerin

 

 

Die Schriftstellerin, sozialkritische Historikerin und frühe Sciencefiction-Autorin Muriel Jaeger wurde in Barnsley (14 Victoria Street), Yorkshire, als Tochter von Frances Emma (geb. Hollingsworth) und John Edward Jagger geboren; der Familienname dürfte nachträglich geändert worden sein. Sie wuchs in einer englischen Mittelstandsfamilie auf - ihr Vater arbeitete am Amtsgericht und war Vermögensverwalter - und hatte einen Bruder (Bernard) und eine Schwester (Flossie).

Nach Besuch der Sheffield Highschool, die damals von Annie E. Escott geleitet wurde, gewann sie 1912 für drei Jahre ein Clothworkers’ Scholarship (50 Pfund pro Jahr) am Oxforder Frauencollege Somerville, wo sie - der Mode der Zeit folgend - "Jim" genannte wurde. In Somerville studierte sie englische Literatur, schrieb für ein literarisches StudentInnenmagazin und wurde Mitglied eines kleinen literarischen Kreises von schreibenden Frauen, welcher sich selbstironisierend "Mutual Admiration Society" (Gesellschaft für gegenseitige Bewunderung) nannte. Ihre beste Freundin wurde Dorothy L. Sayers, die dem literarischen Zirkel seinen Namen gab; in der starken Persönlichkeit Sayers fand sie ihr Gegenstück, waren sie getrennt, schrieb Sayers ihr liebevoll (Darling Jimmy), dass sie ihre lautstarken Diskussionen vermisse. Es verband sie ihr gemeinsames Interesse an Religion und sie vertrauten einander in ihrem literarischen Urteilsvermögen.

Weitere Mitglieder der Gruppe waren anfangs Marjorie Barber, Charise Barnett (später Frankenberg, eine der ersten Friedensrichterinnen), Muriel St. Clare Byrne (Historikerin und Expertin für das Elizabethanische England), Margaret Chubb (später Pyke, Pionierin auf dem Gebiet der Familienplanung), Amphy Middlemore, Catherine "Tony" Godfrey und Dorothy Rowe (Theatermanagerin). Sie trafen sich einmal pro Woche und diskutierten über das, was sie geschrieben hatten - die Palette reichte von Gedichten über Theaterstücke bis zu einzelnen Kapiteln von Romanen. In den zwanziger Jahren besuchten viele später bekannte Schriftstellerinnen Somerville (Vera Britain, Winifred Holtby, Margaret Kennedy); großes Vorbild für die "Somerville Novelists" war die erfolgreiche Schriftstellerin Rose Macaulay, Somerville-Absoventin einer älteren Generation. Obwohl der Stil der jungen Studentinnen noch traditionell war, entwickelten sie in der Darstellung von Frauen ein neues Bild: das der selbstsicheren Akademikerin.

Muriel Jaeger arbeitete während des Ersten Weltkrieges für das Ministry of Food; sie erwarb dort - wie Sayers sagte - ein Expertenwissen über die Hungersnot in Deutschland und Österreich. 1920 absolvierte sie einen Kurs für Journalismus in London und begann zu arbeiten. Ende 1920 lebte sie in der Nähe vom St. George's Square, Pimlico, und Ende 1923 im Londoner Bezirk Paddington (35 Cambridge Place, Praed Street).

Muriel Jaeger war eine junge Frau mit literarischen Ambitionen, eine sozialistisch denkende Feministin. Ihre Tutorin in Somerville schätzte ihren frischen und unabhängigen Verstand, ihre Originalität und ihre beachtenswerte Ausdrucksstärke. Sie war aber auch eine sehr empfindliche, schwierige Persönlichkeit und das Äußern ihrer oft unverblümten, zynischen Ansichten, die Sayers so schätzte, sollten ihr Erwerbsleben kompliziert gestalten: sie stritt heftig mit ihren jeweiligen ArbeitgeberInnen, z. B. bei der feministischen Zeitschrift Time & Tide oder bei der britischen Vogue und verlor dadurch ihre Arbeit. Sie machte sich das Leben schwer, indem sie nie mit dem, was sie machte zufrieden war, und war in ihren ersten Jahren in London immer wieder unglücklich und krank.

Muriel Jaeger schrieb an einem Roman, verheimlichte dies aber vor ihren Freundinnen; gleichzeitig spornte sie Dorothy Sayers an, ihren eigenen Roman zu schreiben und bekam als Dank in Sayers ersten Lord Peter Wimsey Roman "Whose Body" (1921) die Widmung: Für Jim. Dieses Buch ist deine Schuld. Ohne deine schonungslose Beharrlichkeit wäre Lord Peter nicht bis zum Ende dieser Untersuchung gewankt. Die enge Freundschaft endete nach einem gemeinsamen Urlaub 1924; Grund dafür könnten die lesbischen Gefühle Muriel Jaegers für Dorothy Sayers gewesen sein.

Über Muriel Jaegers späteres Leben ist wenig bekannt; obwohl sie in ihren Texten oft Ansätze von Humor zeigte, konnte sie diesen infolge ihrer schwierigen Persönlichkeitsstruktur in ihrem Leben nicht umsetzen.

1969 starb sie in ihrem Heim in Turnbridge Wells (4 Nevill Park), Kent.

 

Nach Kriegsende begann Muriel Jaeger mit der Arbeit an einem Roman über junge Frauen mit Universitätsabschluß, der zum Teil autobiografisch ihre Freundschaft mit Dorothy Sayers beinhaltet; nach mehreren Versionen gab sie dieses Vorhaben auf, der Text wurde nie veröffentlicht.

Ihr erster Roman, "The Question Mark", erschien im März 1926 in der Hogarth Press und bei Macmillan (New York City). Die Hogarth Press Ausgabe hatte eine Auflage von 1000 Stück, war in rotes Leinen mit blauem Aufdruck gebunden und hatte einen cremefarbenen Schutzumschlag, der schwarz bedruckt war. Die sozialistische Utopie war zwar von William Morris, H. G. Wells und dem amerikanischen Autor Edward Bellamy beeinflusst, sie schwächte aber absichtlich deren Visionen ab, indem sie das United Kingdom in 200 Jahren beschrieb, bevölkert mit realen Personen, die selbstsüchtig, eitel und oberflächlich sind; gleichzeitig dürfte der Roman auch Aldous Huxley beeinflusst haben. Obwohl sie gute Rezensionen hatte, hielt sich der Verkauf in Grenzen.

Ihr zweiter Roman "The Man with the Six Senses" erschien im September 1927 in der Hogarth Press mit einer Auflagenhöhe von 1000 Stück; der orangegelbe Leinenumschlag war goldbedruckt. In diesem Roman wird ein schwächlichen jungen Mann mit Hang zum Übersinnlichen beschrieben, dem seine Freundin - einen Vertreterin der jungen, zynischen Nachkriegsgeneration - hilft, seine Fähigkeiten auszubilden. Obwohl originell, verkaufte sich auch dieses Buch nicht besonders.

Es folgten 1933 der Thriller "Hermes Speaks" - Hermes ist ein betrügerisches Medium -, der von der Times in eine Liste der erfolgreichen Bücher aufgenommen wurde, und im Oktober 1936 als vierter und letzter Roman "Retreat from Armageddon", in dem eine Gruppe von Freunden in einem Haus in den Bergen sich ihre Lebensgeschichten erzählen, wobei allen der drohende Krieg bewusst ist.

Nachdem Muriel Jaeger mit ihren Romanen nicht sehr erfolgreich war und ihr Kritik sehr nahe ging, wechselte sie - auch aus ökonomischen Gründen - zu Sachthemen: später meinte sie, dass es viel leichter sei,  historische und philosophische Themen zu bearbeiten, Biografien und Kritiken zu schreiben, da man dazu weniger "mentale Muskeln" verwenden musste.

Nach "Sisyphus or the Limits of Psychology" (1929) für die erfolgreiche Serie "Today and Tomorrow", in dem sie die Wichtigkeit der Psychologie erörterte - der Manchester Guardian empfahl es allen Studierenden der Psychologie -, folgte "Experimental Lives, from Cato to George Sand" (1932), in dem sie sich mit außergewöhnlichen Menschen beschäftigte, die ihre Prinzipien lebten: Thomas Day, Philip Dormer Stanhope Earl of Chesterfield, Franz von Assisi, Marcus Porcius Cato und George Sand.

Während des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte sie "Wars of Ideas", einen Text von ca. 50 Seiten über Nationalismen und internationale Kooperationen in der Serie "Thinkers Forum", und "Liberty versus Equality", in dem sie politische Systeme am Beispiel von Neuseeland und der Sowjetunion zur Diskussion stellt.

1956 erschien ihr "Before Victoria. Changing Standards & Behaviour, 1787–1837", ein Buch, gewidmet Margaret Pyke, ihrer Freundin und Kritikerin aus der Somerville Diskutiergruppe, in dem sie vor allem den schreibenden Frauen den ihnen zustehende Platz in der Geschichte einräumt.

1965 veröffentlichte Muriel Jaeger ihr letztes Buch, "Shepherd’s Trade", Essays über Bücher und AutorInnen, über ihre eigenen Schreiberfahrungen und das Publizieren von Texten; sie verweist in diesen Texten auch auf aufstrebende AutorInnen, wobei ihr oft die Gemeinsamkeit fehlt, was sie auf ihr Alter zurückführt. Ihr Stil war nun ausgereift - noch scharf, aber freundlich gegenüber dem Nachwuchs.

Neben den Romanen und Sachbüchern versuchte sich Muriel Jaeger auch an einigen Theaterstücken: entmutigende Erfahrungen lehrten sie jedoch, auch das aufzugeben: es gelang ihr nicht, ein gutes Verhältnis zu den SchauspielerInnen aufzubauen, da diese oft nicht ihre Meinung teilten; eine Satire zu den Friedensverhandlungen von 1918 "Sweet Liberty", die sie gemeinsam mit ihrem Bruder schrieb, der kurz nach Fertigwerden 1944 bei einer Flugpatrouille starb, wurde zwar vom Theater angenommen, aber von Lord Chamberlain verboten.

Einer von Dorothy Sayers Biografen bemerkte ironisch, dass man den populärsten Detektiv der Welt eigentlich Muriel Jaeger zu verdanken habe, einer Autorin, deren eigene Bücher vergessen wurden. Heute stimmt das nicht mehr ganz: die Sciencefiction-Forschung und feministischen Studien beschäftigten sich zunehmend mit den "Somerville Novelists" und damit auch mit Muriel Jaeger, einige ihrer Bücher wurden neu aufgelegt oder erschienen als ebook.


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2006

orlando.cambridge.org/public/svPeople?person_id=jaegmu

Alzina Stone Dale: Maker and Craftsman: The Story of Dorothy L. Sayers (google booksearch)

en.wikipedia.org/wiki/Muriel_Jaeger

www.antiqbook.com/search.php?action=search&l=en&owner_id=&full=Muriel+Jaeger

www.oxforddnb.com/search?q=Jaeger,%20Muriel%20(1892%E2%80%931969),%20novelist

www.sf-encyclopedia.com/entry/jaeger_muriel

www.sheffieldhighschool.org.uk/why-us/our-history/

blogs.some.ox.ac.uk/archive/2010/11/05/dorothy-l-sayers-and-vera-brittain-at-somerville-in-1915/

seriesofseries.owu.edu/discussion-books/

 

Bildnachweis:

Muriel Jaeger um 1926: Foto aus der Neuauflage von "The Question Mark" (British Library Science Fiction Classics, 2019); Mo Moulton, Historikerin an der University of Birmingham schrieb eine ausführliche Einleitung und veröffentlichte 2019 ein Buch über die "Mutual Admiration Society".

Somerville College: Alden's Oxford Guide. Oxford: Alden & Co, 1903. Internet Archive version of a copy in St. Michael's College Toronto. www.victorianweb.org/art/architecture/oxford/somerville/1.html

Muriel "Jim" Jaeger um 1926

Muriel "Jim" Jaeger um 1926

 

2019 erschien eine Neuauflage von Muriel Jaegers erstem Roman "The Question Mark". Mo Moulton schrieb dazu eine ausführliche Einleitung und veröffentlichte im selben Jahr ihr Buch über die "Mutual Admiration Society".

 

Somerville College in Oxford


Muriel Jaegers "Liberty versus Equality" erschien 1943 beim Londoner Verlag Nelson and Sons als Nr. 48 der Serie "Discussion Books"; die Serie  richtete sich an einen breiten LeserInnenkreis und stellte von 1938 bis 1967 kontroverse Untersuchungen und zeitgenössische Themen zur Diskussion. Während des gesamten Zeitraums wurde als Umschlagdesign - mit wechselnden Farben - der stilisierte hämmernde Mann verwendet.



Muriel Jaeger - Veröffentlichungen (Auswahl):

The Question Mark. Hogarth Press, London 1926 / Neuauflage mit einer Einleitung von Dr Mo Moulton, British Library Science Fiction Classics, 2019

The Man with Six Senses. Hogarth Press, London 1927 / HiLo Books, Boston 2013 / ebook Singularity & Co. 2013 / British Library Science Fiction Classics, 2020

Sisyphus or the Limits of Psychology. Today and Tomorrow Series. Paul, Trench, Trubner & Co., London 1929

Experimental Lives. From Cato to George Sand. G. Bell, London 1932

Hermes Speaks. Duckworth, London 1933

The Sanderson Soviet. A Comedy in Three Acts. Samuel French, London 1934

Retreat from Armageddon. Duckworth, London 1936

Wars of Ideas. Series Thinkers Forum, Nr. 20, Watts & Co., London 1942

Liberty Versus Equality. Discussion Books 48. T. Nelson and Sons, London 1943

(with Bernard Jaeger) Sweet Liberty (1944)

Before Victoria. Changing Standards & Behaviour, 1787–1837. Chatto and Windus, London 1956 / Penguin Books Ltd., 1967

Shepherd’s Trade. Arthur H. Stockwell, Ilfracombe 1965

 

Weiterführende Literatur:

Susan J. Leonardi: Dangerous by Degrees. Women at Oxford and the Somerville College Novelists. Rutgers University Press, 1989

Barbara Reynolds (Ed.): The Letters of Dorothy L. Sayers. (1899–1936). Hodder & Stoughton Ltd, 1995

Barbara Reynolds: Dorothy L. Sayers: Her Life and Soul. Hodder & Stoughton; 1993

S. Stratton: Muriel Jaeger’s The Question Mark, a response to Bellamy and Wells. In: Foundation. The International Review of Science Fiction, 29/80 (autumn 2000), S. 62-69

Mo Moulton: Mutual Admiration Society. How Dorothy L. Sayers and her Oxford Circle Remade the World for Women. Corsair / Hachette Book Group 2019

 


Helga Kaschl: Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2022

Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien eine Online-Ausgabe von "Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen illustrierenden Hintergrundtexten. Das Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (448 Seiten, Format A4).

 

 

autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press

oder

d-nb.info/1262912083/34