ALETHEA GRAHAM

22. August 1908 – 17. Juni 1980

 

Übersetzerin, Dichterin, Sprachlehrerin, Sozialarbeiterin

 

 

Elisabeth Mary Alethea Graham war die Tochter der Schriftstellerin Aelfrida Catharine Wetenhall Tillyard und des Diplomaten Constantine Cleanthes Graham und kam in Arlington Heights, einem Vorort von Chicago, zur Welt. Ihre Mutter schrieb Science Fiction, Gedichte, Romane, Kinderbücher und wurde vor allem dadurch bekannt, dass sie die über 200 Seiten starke Anthologie "Cambridge Poets. 1900–1913" herausgab, die u. a. Gedichte von Rupert Brooke, Frances Cornford oder Aleister Crowley enthielt. Obwohl aus einer liberalen Familie stammend - ihr Vater gründete The Cambridge Independent Press, ihre Mutter war eine der ersten Frauen, die in Cambridge eine Prüfung ablegen konnten -, war Aletheas Mutter dem Mystizismus verbunden; sie fühlte sich zunehmend zu Spirituellem hingezogen und hatte Kontakt zu dem Okkultisten Crowley. Nach nur dreijähriger Ehe und Aufenthalten in Deutschland, Frankreich, Russland und USA beschloss sie, ihren Mann nicht mehr ins Ausland zu begleiten: sie kehrte 1910 mit Alethea und ihrer neugeborenen zweiten Tochter Agatha in das Anwesen ihrer Eltern nach Cambridge (15a Fordfield House, Brooklands Avenue) zurück und blieb dort bis in die 30-er Jahre. Die Ehe wurde 1921 geschieden.

Alethea besuchte ab September 1922 in Cambridge die Perse High School for Girls, war sportbegeistert - sie spielte Hockey, Netzball und Tennis -, hatte ausgezeichnete Noten und begann sich für Literatur zu interessieren; sie ging zur Keats-Vorlesung von John Middleton Murry am Trinity College, hörte sich Vorlesungen von Tom Henn über Ibsen und Shaw an und studierte gemeinsam mit ihrer Mutter die Werke von Dante. Während ihrer Schulzeit und ihrer Studienzeit in Girton unternahm sie mit ihrer Familie und mit FreundInnen zahlreiche Reisen in die Schweiz, nach Italien und nach Frankreich, wo sie Vorlesungen an der Sorbonne besuchte.

Von 1926 bis 1929 studierte sie Sprachen am Girton College, schrieb Gedichte, machte Übersetzungsarbeiten, war Mitbegründerin einer Theatergruppe, nahm an verschiedenen Diskussionsgruppen teil, besuchte 1928 auch Virginia Woolfs legendäre Vorlesung über "Women and Fiction" in Cambridge und ging zu Treffen des Liberal Club der Universität, wo u. a. Maynard Keynes zu den Vortragenden zählte. Sie hatte einen großen Bekanntenkreis, darunter Ian Parsons, ein Freund von Leonard Woolf, Helen Megaw, Virginia Woolfs Neffe Julian Bell und der Dichter und Maler Julian Trevelyan.

Gegen Ende ihres Studiums begann sie sich für soziale Fragen zu interessieren und fasste ein viertes Studienjahr in Girton mit dem Fach Wirtschaft ins Auge. Im April 1929 lernte sie durch ihre Mutter Raffaello Piccoli kennen, der an der Universität Italienisch unterrichtete; Alethea verliebte sich in den über zwanzig Jahre älteren Professor und beendete ihre Beziehung zu John Wedgwood, mit dem sie seit Studienanfang befreundet war.

Neben den "trockenen" Wirtschaftsvorlesungen besuchte sie u. a. Vorlesungen von Piccoli und hörte Ludwig Wittgensteins "A Lecture on Ethics" im Rahmen der Heretics Society; die Society wurde 1909 von Charles Kay Odgen als nonkonformistische und für Frauen zugängliche Vereinigung gegründet, zu ihren Vortragenden zählten u. a. Jane Harrison, Bertrand Russell und Virginia Woolf.

1930 erschien in London die von Decio Pettoello herausgegebene Sammlung "Great Italian Short Stories", ein über 900 Seiten starker Band mit 85 Kurzgeschichten, die zum Teil Alethea ins Englische übersetzt hatte. Im selben Jahr ging sie nach Paris und arbeitete für La Semaine a Paris, eine Veranstaltungszeitschrift für Touristen. Raffaello Piccoli besuchte sie für einige Zeit in Paris und ging dann endgültig nach Italien zurück. Alethea kehrte im März 1931 - psychisch angeschlagen - nach England zurück. Sie gab Nachhilfestunden in Französisch und Italienisch, besuchte Konzerte, zog sich aber aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Sie wurde zunehmend religiöser und besuchte Gottesdienste in den verschiedenen Kirchen von Cambridge. Nach einer Unterleibsoperation mit längerer Rekonvaleszenz begann sie, sich für Sozialarbeit zu interessieren und arbeitete ab Oktober 1932 für das 1924 gegründete Katherine Low Settlement im Londoner Stadtteil Battersea, dessen Aufgabe darin bestand, die Folgen von Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen.

1933, möglicherweise beeinflusst durch den Tod Raffaello Piccolis, wurde Alethea Laienschwester bei den Benediktinerinnen in St. Mary’s Abbey, West Malling, Kent, wo sie über drei Jahre blieb. In dieser Zeit starb sowohl ihr Vater als auch ihre Schwester Agatha, die unter Depressionen litt und im Februar 1935 Selbstmord verübte.

Alethea entschloss sich zur Missionsarbeit und fuhr Ende 1936 nach Südafrika, arbeitete dort zunächst im House of Bethany, Plumstead, und dann in der St. Cuthbert’s Mission, Tsolo, in der Kapregion.

1953 kehrte sie nach England zurück, zog nach Oxford - ihre Mutter lebte in der Gemeinschaft der All Saints Sisters of the Poor im St. John’s Home - und blieb dort für den Rest ihres Lebens. Sie kaufte eine Haus in Old Headington (1 Headington Lane) nördlich von Oxford, wurde Generalsekretärin der Cowley, Wantage and All Saints Association, machte weiter Übersetzungen und gab Privatunterricht in Französisch und Italienisch. Sie arbeitete für das Oxford Local Examination Board, unterrichtete Häftlinge des Oxforder Gefängnisses und schrieb für Zeitschriften wie The Star in the East, ein Journal der Bible Lands Mission.

 

Im Februar 1931 erschien als Nummer 20 im Rahmen der "Hogarth Living Poets, First Series" die 56 Seiten starke "Anthology of Cambridge Women’s Verse" mit vier Gedichten von Alethea Graham. Das Buch hatte eine Auflage von 500 Stück und einen chamoisfarbenen Pappeinband. Die Anthologie wurde von Margaret Thomas herausgegeben und enthält außerdem Beiträge von Studentinnen des Girton College und des Newnham College: Margaret Diggle, Gwendolen Freeman, Jocelyne Gibson, Muriel Hardill, Morwenna Lyne, Helen Megaw, E. E. Phare, F. Picot, Kathleen Raine und Margaret Thomas; drei Beiträge sind nur mit Initialen der Autorinnen, alle Studentinnen von Newnham, gezeichnet: E. S. D. H., M. N., A. D. W. Den Umschlag entwarf Virginia Woolfs Schwester Vanessa Bell.

 

Alethea Graham vermachte dem Girton College Manuskripte, Tagebücher, Fotos und verschiedene Papiere; ebenso im Girton College Archiv befinden sich die Papiere ihrer Mutter Aelfrida Tillyard und ihrer Schwester Agatha Graham.

 


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

Girton College Register 1869–1946. Cambridge 1948

Robin Healey:Twentieth-century Italian Literature in English Translation. An Annotated Bibliography 1929–1997. University of Toronto Press 1998

Personal Papers of Alethea Graham, Girton College Archive, Cambridge:

janus.lib.cam.ac.uk/db/node.xsp?id=EAD%2FGBR%2F0271%2FGCPP%20Graham%2C%20A1

Personal Papers of Aelfrida Tillyard, Girton College Archive, Cambridge:

janus.lib.cam.ac.uk/db/node.xsp?id=EAD%2FGBR%2F0271%2FGCPP%20Tillyard

 

Biografisches:

Sheila Mann: Aelfrida Tillyard. Hints of Perfect Splendou. Wayment Print & Publishing Solutions Ltd., 2013

 

Bildnachweis:

Aelfrida Tillyard mit ihren Töchtern: issuu.com/girtoncollege/docs/girton_the_year_2013_web

Fordfield House: www.stmaryscambridge.co.uk/about/our-history/through-the-years.htm

 

Aelfrida Tillyard mit Alethea Graham und ihrer Schwester Agatha /

Fordfield House in Cambridge



Alethea Graham - Veröffentlichung (Auswahl):

"Lines on the Writing-Desk of Miss Clarissa Hare" / "Primavera" / "Variation on an Old Theme" / "Fire". In: An Anthology of Cambridge Women’s Verse. Compiled by Margaret Thomas. Hogarth Living Poets, First Series, No. 20, Hogarth Press, London 1931

Alethea Graham - Veröffentlichung (Auswahl):

Decio Pettoello (Ed): Great Italian Short Stories. Ernest Benn, London 1930


Helga Kaschl: Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2022

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