SALLY GRAVES

3. August 1914 – 3. Juli 2014

 

Dichterin, Journalistin, Historikerin, Politikwissenschaftlerin, Anthropologin

 

Elizabeth Millicent "Sally" Graves war die Tochter von Millicent und Philip Perceval Graves. Ihre Mutter, geb. Gilchrist, stammte aus einer schottischen Unternehmerfamilie und war eine ausgezeichnete Pianistin, ihr Vater, ein älterer Halbbruder des Dichters Robert Graves, war ein bekannter Journalist anglo-irischer Herkunft (Ballylickey Manor), sprach Arabisch und Türkisch und war Auslandskorrespondent der Times.

Sally wurde einen Tag vor Kriegseintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg in Konstantinopel geboren; ihre Mutter kehrte mit ihr, einer griechische Kinderschwester und einem armenischen Diener nach England zurück und lebte bis Kriegsende bei ihren Eltern in Cornwall, ihren Vater sah sie erst nach Kriegsende wieder. Er holte seine Familie in die Türkei zurück, musste aber mit ihnen nach Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges nach Griechenland fliehen. 1922 kehrten sie nach England zurück, lebten zuerst in Cornwall und dann in London; Sally wurde multikulturell erzogen, hatte eine schweizerische Gouvernante und besuchte eine Tagesschule für Mädchen. Mit etwa dreizehn kam sie an die 1923 gegründete Internatsschule Benenden in Kent; nach anfänglichen Schwierigkeiten - wegen ihrer Größe wurde sie Giraffe genannt - schloss sie Freundschaften, lobte den ausgezeichneten Kunstunterricht und fand Interesse an der umfangreichen Bibliothek mit einer Fülle von Enzyklopädien.

Bevor sie ein Studium am Somerville College in Oxford begann, besuchte sie ein Jahr die Kunstschule, musste aber feststellen, dass sie nicht talentiert war. In Somerville begann sie Englische Literatur zu studieren, wechselte aber bald zum Fach Geschichte mit Schwerpunkt römische Geschichte. Sie lernte Richard Chilver kennen, der ihr bei griechischen Übersetzungen half und befreundete sich mit Anastasia Anrep, deren Mutter Helen Anrep wiederum mit Virginia und Leonard Woolf befreundet war. Sie schloss sich einer linken Gruppe an, demonstrierte und bezeichnete sich selbst als typisches linkes Groupie der frühen 30-er Jahre. Während ihrer Collegezeit schrieb sie Gedichte, die in Lysistrata erschienen, einem Studentinnenmagazin, an dem sie mitarbeitete und für das sie auch von Virginia Woolf einen Beitrag erhielt. Sally Graves gehörte so wie etwa Christopher Isherwood, Stephan Spender und William Plomer  zur jüngeren Generation im Umfeld der Woolfs; nach Virginia Woolf war sie: ein resoluter kantiger Geist, eher trotzig, zu gescheit, zu jung, ganz in Schwarz; ungelenk, zerzaust, nett; warmherzig, mutig & freiheitsbegeistert.

1935 verließ sie Somerville und fuhr mit ihrer Mutter nach Deutschland; in Berchtesgaden wurde Milicent Graves von einem Insekt gebissen und verstarb an Blutvergiftung. Nach dem frühen, tragischen Tod ihrer Mutter kümmerte sich Sally um ihren Vater und ging Ende 1935 auf Weltreise: sie fuhr nach Kairo - traf dort ihren Vater bei einer Konferenz -, flog nach Be'er Scheva im Süden Israels, dann nach Jerusalem, besuchte den Libanon und fuhr wieder nach Kairo zurück; gemeinsam mit ihrem Vater besuchte sie anschließend Bulgarien und kehrte dann nach England zurück; während ihre Reise schickte Sally regelmäßig Texte an die Times.

1935 hatte sie schon "Marginal Comments" und Literaturkritiken für The Spectator verfasst, ab 1936 veröffentlichte sie Gedichte in Epilogue, dem kritischen Magazin, das ihr Onkel Robert Graves und Laura Riding in ihrer Seizin Press herausgaben und einen Text zu Männlichkeit und Weiblichkeit.

Nachdem sowohl der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Maurice Dobb als auch der Philosoph Frank Hardie es abgelehnt hatten für die Hogarth Press eine Geschichte des Sozialismus zu schreiben, trat Leonard Woolf an Sally Graves heran, die schließlich im Februar 1936 den Vertrag unterschrieb. Ein Jahr später hatte Woolf noch immer kein Manuskript und er ermahnte Sally, so schnell wie möglich fertig zu werden, da auch der Verlag Gollancz an ein ähnliches Projekt dachte. Sie reichte schließlich im August 1938 ein erstes Manuskript ein - Leonard Woolf fand es außerordentlich gut - und im Mai 1939 wurde das Buch veröffentlicht: "A History of Socialism" war in blaues Leinen mit roten Aufdruck gebunden und hatte einen rot bedruckten weißen Schutzumschlag, der von Richard Kennedy entworfen wurde; eine preiswerte orangenfarbene Paperback-Ausgabe kam ebenfalls auf den Markt.

Das Buch untersucht Ursprünge und Entwicklung des Sozialismus von den englischen Wurzeln im frühen 19. Jahrhundert, den Aufstieg des französischen, deutschen, russischen und marxistischen Sozialismus, bis zur Entwicklung der englischen Labour Party, die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, den Aufschwung des internationalen Sozialismus und des sowjetischen Kommunismus. Das Abschlusskapitel "The Crisis in Socialism, 1919–1939" behandelt kurz die Zwischenkriegsjahre und schließt mit einem Aufruf an die britischen Sozialisten und Mitglieder der Labour Party, den Widerstand gegen Faschismus und Kapitalismus zu stärken. Als historischer Untersuchung des internationalen Sozialismus ist das Buch fundiert, als Untersuchung des englischen Sozialismus ist es weniger brauchbar, da Sally Graves sektiererischen Debatten innerhalb Labour und den Fabians ausklammerte.

Sally Graves heiratete 1937 in einer großen Hochzeit Richard Clementson Chilver, der als Beamter im Luftfahrtministerium Karriere machte und einen Hang zum Tischlern und Töpfern hatte; kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte er einen schweren Motorradunfall und musste lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Sally leistete Kriegsdienst und arbeitete als Staatsbeamtin für das Ministry of Economic Warfare und für das War Cabinet Office; hier kam sie zum erste Mal mit Kamerun in Kontakt, da sie den Export von westafrikanischen Produkten ankurbeln sollte. Nach dem Krieg arbeitete sie als Journalistin für Daily News, ab 1947 war sie Mitarbeiterin des sozialwissenschaftlichen Forschungsrats und des wirtschaftswissenschaftlichen Komitees des Kolonialministerium, Gremien, die Forschungsarbeiten in Übersee unterstützten und Gründungen von Forschungsinstituten in Ost- und Westafrika förderten. Von AkademikerInnen umgeben, entschloss sich Sally, weiter zu studieren und besuchte Abendkurse der London School of Economics.

Mitte der 50-er Jahre veröffentlichte sie unter "Sally Chilver" noch einige Gedichte in The London Magazine, alle weiteren Publikationen erschienen unter "Elizabeth M. Chilver" und beschäftigen sich zum überwiegenden Teil mit Afrika, und da vor allem mit Kamerun.

Durch ihre Arbeit kam sie in Kontakt mit verschiedenen SozialanthropologInnen, darunter Phyllis Kaberry, die 1952 das Buch "Women of the Grassfields" veröffentlichte, eine Studie über die wirtschaftliche Stellung von Frauen in British-Cameroons; sie befreundete sich mit der US-amerikanischen Kulturanthropologin Ruth Landes, durch die sie die Literatur der klassischen amerikanischen Anthropologie kennen lernte.

1958 - mittlerweile Direktorin des Institute of Commonwealth Studies in Oxford - begleitete sie Phyllis Kaberry auf eine zehnwöchige Studienreise in den Kamerun, weitere längere Studienaufenthalte folgten 1960, 1961 und 1963. Als wissenschaftliche Leiterin des Institute of Commonwealth Studies in London unterstützte sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten aber auch Freunde, wie die Schriftstellerin und Journalistin Inez Holden, der sie ein Projekt vermittelte, das Archiv der Baptisten Mission in Westafrika zu bearbeiten.

Ab 1964 wurde Sally Graves für sieben Jahre Prinzipalin des Bedford College der Universität London und anschließend bis 1979 der "Lady Margaret Hall" der Universität Oxford, in deren Magazin The Brown Book sie regelmäßig Beiträge veröffentlichte.

Nach ihrer Pensionierung widmete sie sich vollständig ihren Kamerun-Studien begann ihre Aufzeichnungen zu ordnen - zu ihrem Leidwesen ohne Phyllis Kaberry, die 1977 nach langer Krankheit verstorben war. Nach dem Tod ihres Mannes 1985 verkaufte sie die gemeinsame Londoner Wohnung und zog sich ganz in ihr Haus in Oxford zurück, wo sie sich weiter ihren Studien widmete.

 


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

J. H. Willis, Jr.: Leonard and Virginia Wolf as Publishers. The Hogarth Press 1917–1941. University Press of Virginia. Charlottesville and London, 1992

Virginia Woolf: Tagebücher 4, 1931–1935, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003

Virginia Woolf: Tagebücher 5, 1936–1941, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008

Virginia Woolf: Briefe 2. 1928–1941. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006

Sybil Oldfield (Ed.): Afterwords. Letters on the Death of Virginia Woolf. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2005

en.wikipedia.org/wiki/Elizabeth_Millicent_Chilver

mambila.info/Chilver/collisions.html

mambila.info/Chilver/bibliography.html

mambila.info/Chilver/index.html

 

Bildnachweis:

1936 Sally Graves und Richard Chilver: Virginia Woolf Monk's House Photograph Album MH-5, Houghton Library / iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/ids:17951261

1958 in Kamerun: mambila.info/Chilver/index.html

1977 Sally Chilver. Porträt von Rupert Shepard (1909–1992) / artuk.org/discover/artworks/sally-chilver-222356

 

Sally Graves und Richard Chilver vor Virginia Woolfs Arbeitsraum im Monk's House, Lewis, 1936.

Die Monk's House Alben befinden sich in der Houghton Library der Harvard University. Siehe auch den Fotoband "Maggie Humm: Snapshots of Bloomsbury. The Private Lives of Virginia Woolf and Vanessa Bell" (Rutgers University Press, 2006), in dem ein Teil der insgesamt fünf Alben zu sehen ist.

1958 begleitete Sally Chilver die Anthropologin Phyllis Kaberry auf einer Studienreise nach Kamerun: auf dem Foto ist der Häuptling der Nso, Fon Sem III, zu sehen, in der Mitte Sally Chilver und rechts Phyllis Kaberry.

 

Sally Chilver war von 1971 bis 1979 Prinzipalin der Lady Margaret Hall, University of Oxford. Das College wurde 1879 als erstes Frauen-College gegründet, nachdem 1875 erstmals Frauen zu Prüfungen zugelassen wurden; ab 1979 durften sich auch männliche Studierende einschreiben.

 


"A History of Socialism" hatte eine für die Hogarth Press ziemlich hohe Auflage: es wurden 3000 Stück gedruckt; darüber hinaus erschien auch eine preiswerte Paperback-Ausgabe.


Sally Graves - Veröffentlichungen (Auswahl):

A History of Socialism. Hogarth Press, London 1939 / archive.org

Elizabeth M. Chilver - Veröffentlichungen (Auswahl):

The History and Customs of Ntem. Oxonia, Oxford 1961

Zintgraff's Explorations in Bamenda. Adamawa and the Benue Lands, 1889–1892. Ministry of Primary Education and Social Welfare, West Cameroon Antiquities Commission, Buea 1966 / Langaa Rpcig, Bamenda 2010

mit Phyllis Kaberry: Traditional Bamenda. The Pre-Colonial History and Ethnography of the Bamenda Grassfields. Ministry of Primary Education and Social Welfare, West Cameroon Antiquities Commission, Buea 1968

mit Phyllis Kaberry: Western Grassfields (Cameroon Republic). Linguistic Notes. University of Ibadan, Institute of African Studies, Occasioanl Publication No. 29, Ibadan 1974

Sally Graves / Sally Chilver / Elizabeth M. Chilver veröffentlichte darüber hinaus zahlreiche Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften wie: Journal of African Administration / The Roundtable. A Quarterly Review of British Commonwealth Affairs / Journal of the Historical Society of Nigeria / Journal of Religion in Africa / Cameroons Student Journal / Journal of African History / Journal of African Languages u. a.

 

Eine ausführliche Bibliografie ihrer Arbeiten findet man unter: mambila.info/Chilver/bibliography.html

 


Helga Kaschl: Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2022

NEUERSCHEINUNG

 

Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien im Juli 2022 eine Online-Ausgabe von "Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen illustrierenden Hintergrundtexten:
 
autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press


oder
d-nb.info/1262912083/34

Das Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (448 Seiten, Format A4).