ELLA FREEMAN SHARPE

22. Februar 1875 – 1. Juni 1947

 

Psychoanalytikerin, Schriftstellerin, Lehrerin

 

 

Ella Agnes Freeman Sharpe wurde in Sudbury (Garden Place, Cross Street), Suffolk, geboren und war die älteste Tochter von Mary Ann Freeman und Frank Sharpe, einem Seidenhersteller. Sie wuchs im nahegelegenen Haverhill auf, das neben Sudbury und Glemsford ein Zentrum der Seidenherstellung im Stour Valley war.

Ella Freeman Sharpe hatte eine enge Beziehung zu ihrem Vater, dessen Begeisterung für Shakespeare und die englische Literatur sie teilte und die sie ihr ganzes Leben begleitete - so versäumte sie später kaum eine Shakespeare-Aufführung in einem Londoner Theater. Als er frühzeitig starb, fühlte sie sich für ihre Mutter und die zwei jüngeren Schwestern verantwortlich, verzichtete nach einer dreijährigen Ausbildung am University College von Nottingham - sie studierte Literatur -, auf ein weiteres Studium in Oxford und unterrichtete von 1904 bis 1916 englische Literatur in verschiedenen Schulen und am "Pupil Teachers’ Training Center" im nordwestlich von Nottingham gelegenen Hucknall; darüber hinaus war sie auch mit Leitungsaufgaben betraut und entwickelte großes Einfühlungsvermögen in der Beurteilung von pubertierenden Jugendlichen.

Der Erste Weltkrieg und Verluste von Freunden und Schülern lösten in Ella Sharpe so starke Depressionen und Panikattacken aus, dass sie an der Medico-Psychological Clinic am Londoner Brunswick Square Hilfe suchte; nach erfolgreicher Behandlung begann sie dort mit einer psychoanalytischen Ausbildung unter James Glover. Die Klinik war 1913 von der Ärztin und Frauenrechtlerin Jessie Murray und deren Partnerin Julia Turner mit Unterstützung der Schriftstellerin May Sinclair gegründet worden und behandelte im Ersten Weltkrieg vor allem durch den Krieg traumatisierte Soldaten; es wurden hier auch die dringend benötigten PsychoanalytikerInnen ausgebildet. Führende Mitglieder der frühen Britischen Psychoanalytischen Vereinigung wie z. B. James Glover, Sylvia Payne, Mary Chadwick, Nina Searl, Susan Isaacs, Iseult Grant Duff und Marjorie Brierley machten an der Klinik ihre Ausbildung.

1920 ging sie nach Berlin, um beim österreichischen Psychoanalytiker Hanns Sachs eine Analyse zu machen, die sie noch einige Jahre während der Sommermonate fortsetzte; mit Hanns Sachs verband sie auch ihr Interesse für Kunst und Literatur, im speziellen die Liebe zu Shakespeare. Zurück in London wurde sie 1921 außerordentliches, 1923 ordentliches Mitglied und später Lehranalytikerin der British Psycho-Analytical Society (BPAS). Gemeinsam mit den Kinderanalytikerinnen Nina Searl, Mary Chadwick und M. G. Lewis, ebenfalls Analysandinnen von Hanns Sachs, bewohnte sie eine Wohnung in 16 Gordon Street - von James Strachey die "Ladies of the Gordon Street Menagé" genannt. Am Gordon Square wohnte auch Virginia Woolfs jüngster Bruder Adrian Stephen, der eine Analyse bei Ella Sharpe machte und Psychoanalytiker wurde. Später hatte sie eine Wohnung am Regent’s Park, 9 Kent Terrace.

Elle Sharpe wurde für ihre - ausgezeichnet vorbereiteten - klinischen Seminare zu Praxis und Technik der Psychoanalyse anerkannt, sie wurde mehrmals in den Unterrichtsausschuss und in den Vorstand gewählt und leitete schließlich bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das Lehrinstitut der BPAS. Für sie bedeutete Psychoanalyse ein Hilfsmittel im Rahmen der Erziehung und Ausbildung von Jugendlichen und sie setzte dafür ihre ganze Fähigkeit im Verständnis für menschliche Verhaltensweisen ein. Als eine der ersten britischen KinderanalytikerInnen gehörte sie anfangs zu den AnhängerInnen Melanie Kleins, schloss sich aber später der "Independent Group" an; in der Kontroverse zwischen Anna Freud und Melanie Klein der 1940-er Jahre nahm sie die Rolle einer Vermittlerin ein.

Von KollegInnen wurde Ella Sharpe mehr als Praktikerin als Theoretikerin beschrieben, die mit ihren PatientInnen sehr vorsichtig umging. Sie war eine schlanke Frau, mit einem aufmerksamen, warmherzigen Gesichtsausdruck, voll Sympathie und mit behutsamen Neugier auf ihr Gegenüber eingehend. Mit zunehmenden Alter wurde sie korpulent, war Kettenraucherin, nervös, lärmempfindlich, ihre Augenausdruck aber blieb unverändert: tief und sanft. Sie liebte Literatur und Kunst, lebte für die Psychoanalyse und ihre PatientInnen - und sie lebte für ihre Familie: ihren Schwestern gab sie ein Zuhause in ihrem Haus "Mary’s Mead", Sea Lane, Ferring-by-Sea, Sussex, das auch für sie ein Rückzugsort und Ruhepol war.

Ella Sharpe starb an einem chronischen Herzleiden im Alter von 72 Jahren. Ihre letzte Londoner Wohnadresse war 7, Devonshire Place.

 

Ella Freeman Sharpe verfasste zahlreiche Artikel für das "International Journal of Psycho-Analysis", schrieb eine psychoanalytische Studie über den englischen Dichter Francis Thompson und begann vor ihrem Tod an einem Roman zu arbeiten. Als ihr bedeutendster Beitrag zur Psychoanalyse wird ihr Standardwerk zur Traumanalyse angesehen; es beruht auf dem Grundgedanken, dass Traum und poetische Sprache derselben grammatischen Struktur folgen. Das Werk ging aus ihrer zwischen 1934 und 1936 gehaltenen Vorlesungsreihe am Institute of Psycho-Analysis in London hervor und wurde 1937 von der Hogarth Press herausgegeben: "Dream Analysis. A Practical Handbook for Psycho-Analysts" erschien als Nr. 29 der International Psycho-Analytical Library, das Buch hatte eine Auflage von 1020 Stück, war in goldbedrucktes grünes Leinen gebunden und hatte einen beigen Schutzumschlag. 1950 gab ihre Kollegin Marjorie Brierley eine Sammlung der Schriften Ella Sharpes heraus: "Collected Papers in Psycho-Analysis" erschien ebenfalls in der Hogarth Press als Nr. 36 der International Psycho-Analytical Library, Ernest Jones schrieb das Vorwort. Die Sammlung war in drei Bereiche geteilt: Technik, Theorie und literarische Interpretationen; das Buch war in grünes Leinen gebunden und hatte einen beigen Schutzumschlag.


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

Mary Jacobus: ,Brownie’ Sharpe and the Stuff of Dreams. In: Helen Small and Trudi Tate (Ed.): Literatur, Science, Psychoanalysis, 1830–1970. Essays in Honour of Gillian Beer. Oxford University Press, New York 2003

Charles William Wahl: Ella Freeman Sharpe. In: Franz Alexander, Samuel Eisenstein, Martin Grotjahn (Ed .): Psychoanalytic Pioneers. Transaction Publishers, 1995

Hermione Lee: Virginia Woolf. Ein Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999

The London Gazette, 29 July, 1947, Notices under the Trustee Act 1925

en.wikipedia.org/wiki/Ella_Freeman_Sharpe

www.psychoanalytikerinnen.de/england_biografien.html#Sharpe

www.encyclopedia.com/doc/1G2-3435301360.html

oxfordindex.oup.com/search?q=Ella+freeman+sharpe

academic.oup.com/hwj/article/58/1/63/580807

pep.gvpi.net/document.php?id=bip.004.0381a&type=hitlist&num=18&query=zone1%2Cparagraphs|zone2%2Cparagraphs|journal%2Cbip|volume%2C4

"Mistress of Her Own Thoughts", 2005 von  Maurice Whelan herausgegeben, enthält Ella Freeman Sharpes "Papers on Technique" und heutige Perspektiven der Psychoanalytiker Michael Brearley, Eric Rayner, David W. Riley, Victor Sedlak, Frances Thomson-Salo und Maurice Whelan.


Ella Freeman Sharpe - Veröffentlichungen (Auswahl):

Francis Thompson: A Psychoanalytic Study. British Journal of Medical Psychology, Nr. 5, London 1925

Contribution to "Symposium on Child Analysis". International Journal of Psycho-Analysis (IJP), Nr. 8, 1927

The Impatience of Hamlet. IJP, Nr. 10, London 1929

Certain Aspects of Sublimation and Delusion. IJP, Nr. 11, 1930

The Analyst. IJP, Nr.11, 1930

The Analysand. IJP, Nr. 11, 1930

Variations of Technique in Different Neuroses. Delusion, Paranoia. Obsession. Conversion Types. IJP, Nr. 12, 1931

Technique in Character Analysis. IJP, Nr. 12, 1931

Similar and Divergent Unconscious Determinants Underlying the Sublimations of Pure Art and Pure Science. IJP, Nr. 16, 1935

Dream Analysis. A Practical Handbook for Psychoanalysts. Hogarth Press, London 1937 / Reprint 1978

Psycho-Physical Problems Revealed in Language. An Examination of Metaphor. IJP, Nr. 21, 1940

Cautionary Tales. IJP, Nr. 24, 1943

From "King Lear" to "The Tempest". IJP, Nr. 27, 1946

The Psychoanalyst. IJP, Nr.28, 1947

Collected Papers on Psycho-Analysis. Hg. von Marjorie Brierley. Hogarth Press, London 1950

Papers on Technique. In: Maurice Whelan (Ed.): Mistress of her Own Thoughts: Ella Freeman Sharpe and the Practice of Psychoanalysis. BookSurge Australia, 2005

Maurice Whelan (Ed.): Mistress of her Own Thoughts: Ella Freeman Sharpe and the Practice of Psychoanalysis. BookSurge Australia, 2005


Helga Kaschl: Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2022

Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien 2022 eine Online-Ausgabe von "Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen illustrierenden Hintergrundtexten:

 

autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press

oder

d-nb.info/1262912083/34

 

Das Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (448 Seiten, Format A4).