ALICE RITCHIE

10. Mai 1897 – 27. Oktober 1941

 

Schriftstellerin, Verlagsvertreterin, BBC Mitarbeiterin

 

 

Alice McGregor Ritchie, ihre um fünf Jahre jüngere Schwester Marjorie Tulip (Trekkie) und ihr jüngerer Bruder Pat wurden in Durban, Natal / Südafrika geboren. Die Eltern, Sarah Maria Tulip (geb. 1867 in Stockton on Tees) und Allan McGregor Ritchie (geb. 1870 in Edinburgh) waren 1894 nach Südafrika übersiedelt, wo Allan McGregor Ritchie als Architekt arbeitete. 1914 kehrte er nach Großbritannien zurück, um Wehrdienst im Ersten Weltkrieg zu leisten, 1917 folgte ihm die Familie nach.

Alice Ritchie besuchte zwischen 1917 und 1920 das Newnham College, Cambridge, und arbeitete von Juni 1921 bis Jänner 1923 als Büroangestellte in der Registratur des Völkerbundes in Genf. Unstimmigkeiten und ihre Entlassung ließen sie nach England zurückkehren.

Auf Empfehlung von Philip Noel-Baker, Mitglied der britischen Delegation beim Völkerbund und späterer Labour-Politiker, bekam sie eine Teilzeitarbeit in der Hogarth Press: sie wurde Verlagsvertreterin - für Leonard Woolf die erste Frau in dieser Branche. Davor hatten die Woolfs eher unprofessionell diese Tätigkeit ausgeführt: sie besuchten ein paar Buchhandlungen in London und auf privaten Reisen Buchhandlungen in der Provinz.

Obwohl die Buchhändler nur zum Teil eine Frau als Vertreterin des Verlages positiv aufnahmen, war sie erfolgreich; darüberhinaus schätzte sie Leonard Woolf als eine gute, seriöse Schriftstellerin. Er mochte die um siebzehn Jahre jüngere, sie wiederum war von seinem jugendlichen Charme, seiner Ausstrahlung und seiner Klugheit angetan. Sie war oft Gast von Virginia und Leonard Woolf am Tavistock Square und in Sussex, im Monks House;  Virginia Woolf, die sich oft sarkastisch über junge Frauen äußerte, fand auch über Alice Ritchie, obwohl sie sie schätzte, nicht gerade nette Worte: in einem Brief an Pernel Strachey, Prinzipalin des Newnham College, beschreibt sie Alice Ritchie als beeindruckende, etwas abstoßende Person, wie ein Tier, das seine Pfote in der Falle hat, eine Gemüt, das befürchtet, beleidigt zu werden ... (30. Dezember 1931). Für Leonard Woolf war sie eine begabte Romanautorin, hatte das Naturell einer Künstlerin, aber zu hohe Anforderungen an sich selbst, die es ihr schwer machten, etwas zu vollenden und die sie depressiv machten.

Nachdem im Mai 1928 ihr erster Roman "The Peacemakers" erschienen war, versuchte sich Alice Ritchie - gemeinsam mit Angus Davidson - am Schreiben von Stücken; die Zusammenarbeit scheiterte jedoch, da Davidson sein Hauptaugenmerk darauf richtete, die Manuskripte zu korrigieren. Der Schriftsteller und Übersetzer Angus Davidson war zwischen 1924 und 1929 Assistent in der Hogarth Press und hatte eine enge Beziehung zu Duncan Grant, dem Lebensgefährten von Virginia Woolfs Schwester Vanessa Bell.

Durch Alice Ritchie lernte Leonard Woolf ihre jüngere Schwester Trekkie kennen, die an der Slade School of Fine Art studierte und zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Studienkollegen Peter Brooker verheiratet war; 1934 heiratete sie den Verleger Jan Parsons, Direktor von Chatto & Windus. Trekkie entwarf den Schutzumschlag für den zweiten Roman ihrer Schwester ("Occupied Territory", 1930) und für einige andere Bücher der Hogarth Press, darunter Vita Sackville-Wests Roman "All Passion Spent". Nach Virginia Woolfs Tod hatte sie eine enge Beziehung mit Leonard Woolf, die bis zu seinem Lebensende bestand.

Nach ihrem zweiten Roman arbeitete Alice Ritchie an einem weiteren Buch, das im siebzehnten Jahrhundert spielen sollte; da ihr das Schreiben schwer fiel, ermunterte sie Leonard Woolf und unterstützte sie, indem er Kapitel für Kapitel las und kommentierte; Virginia Woolf war da - vielleicht aus eigener Erfahrung - nicht so feinfühlig: "Wie geht es deinem Roman? Bist du dabei, aus dem Fenster zu springen, wie ich dir angekündigt habe?" (Brief an Alice Ritchie, 8. August 1932)

In der ersten Hälfte des Jahres 1936 arbeitete Alice Ritchie für die BBC und gestaltete eine Reihe, die sich mit Gebräuchen und Lebensgewohnheiten vom Mittelalter bis 1900 auseinandersetzte. Seit ihrer Zeit in Newnham hatte sie dazu Materialien gesammelt und sich historisches Wissen angeeignet. In den Sendungen beschäftigte sie sich mit Themen wie Essgewohnheiten, Haustiere, Lebensgestaltung, Pflanzen und Blumen.

Während ihrer Zeit als Verlagsvertreterin lernte Alice Ritchie über die Designerin Enid Marx Francesca Allinson kennen und war ihr behilflich bei der Veröffentlichung ihres Buches "A Childhood", das 1937 in der Hogarth Press erschien. Ihre Freundin Stevie Smith ermunterte sie, eine Sammlung von Gedichten dem Verlag ihres Schwagers Jan Parsons anzubieten.

Nachdem Alice Ritchie 1937 ihren Job bei der Hogarth Press aufgegeben hatte, wurde sie Mitarbeiterin der 1906 gegründeten International Women’s News, der Zeitschrift des Internationalen Bundes für gleiches Stimmrecht und gleiche Staatsbürgerschaft (International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship), einer Vereinigung, die in enger Verbindung mit dem Völkerbund stand.

Der Kontakt mit den Woolfs wurde weniger, da Alice Ritchie längere Zeit in Palästina verbrachte, wo sie den Haushalt für ihren Bruder Pat führte, der dort als Angehöriger der britischen Luftwaffe stationiert war. Erst Ende April 1941, nach dem Tod von Virginia Woolf, wandte sie sich wieder an Leonard Woolf, um ihm mitzuteilen, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt war und ihn sehen möchte. Ab Mai 1941 besuchte er sie regelmäßig bei ihrer Schwester Trekkie Parsons (25 Victoria Square); sie machte sich Sorgen über die Kosten ihrer Strahlenbehandlung und bat Leonard Woolf um einen Vorschuss auf ihren dritten Roman. Obwohl beide wussten, dass dieser nie vollendet werden würde, bekam sie ein Darlehen von 100 Pfund. Sie verbrachte einige Zeit in einem Pflegeheim und im Westminster Hospital, aus dem sie Leonard schrieb, wie viel ihr seine Besuche bedeutet haben. Wenig später verlor sie den Kampf gegen den Krebs; ihre letzten Tage verbrachte sie im Haus ihrer Schwester Trekkie, die kurz nach ihrem Tod das Darlehen an Leonard Woolf zurückzahlte.

 

Im Mai 1928 veröffentlichte die Hogarth Press Alice Ritchies Roman "The Peacemaker", in dem sie ihre Erfahrungen beim Völkerbund verarbeitete: die Erlebnisse ihrer KollegInnen - Schreibkräfte, Angestellte, zum Großteil Frauen -, die Langeweile innerhalb einer isolierten internationalen Gemeinschaft, die Liebesgeschichte einer jungen Engländerin im Diplomatenmilieu. Das Buch hatte eine Auflage von 1000 Stück, war in goldbedrucktes orangen farbenes Leinen gebunden und hatte einen schwarzbedruckten grauen Schutzumschlag. In den USA erschien der Roman unter dem Titel "The Molehill".

Im März 1930 erschien ihr zweiter Roman, "Occupied Territory". Das Buch beschreibt die Aktivitäten eines britischen Besatzungsregiments in der Nähe von Köln. Teerunden, Dinnerparties, Tanzveranstaltungen und Small Talks lassen den Aufenthalt in der Fremde zu einer Kopie des englischen Gesellschaftslebens in der Vorkriegszeit werden. Das Buch wurde in einer Auflage von 1000 Stück gedruckt und war in olivgrünes gold bedrucktes Leinen gebunden. Der Schutzumschlag wurde von ihrer Schwester Trekkie Ritchie Parsons entworfen, war weiß und dunkelgrau bedruckt.

Alice Ritchie schrieb auch Erzählungen für Kinder, die 1948 in der Hogarth Press veröffentlicht wurden: "Treasure of Li-Po" enthält die Erzählungen "The Treasure of Li-Po", "The Faithful Lantern-Bearer", "The Fox's Daughter", "The Toys", "In the Far South West" und "Two of Everything". Trekkie Ritchie Parsons entwarf den Umschlag und illustrierte die einzelnen Geschichten mit schwarz-weiß Zeichnungen. 1966 veröffentlichte der kanadische Verlag The Copp Clark Publishing eine der Geschichten - "Two of Everyhings" - in "Stories of Fun and Adventure".


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

Virginia Woolf: Tagebücher 3, 1925–1930. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999

Virginia Woolf: Tagebücher 5, 1936–1941. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008

Virginia Woolf: Briefe 2. 1928–1941. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006

Virginia Woolf: A Reflection of the Other Person. The Letters of Virginia Woolf. Volume IV: 1929–1931, Chatto & Windus, London 1981

Virginia Woolf: The Sickle Side of the Moon. The Letters of Virginia Woolf. Volume V: 1932–1935. Hogarth Press, London 1979

Victoria Glendinning: Leonard Woolf. A Biography. Simon & Schuster, 2007

Sybil Oldfield (Ed.): Afterwords. Letters on the Death of Virginia Woolf. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2005

Maggie Humm: Snapshots of Bloomsbury. The Private Lives of Virginia Woolf and Vanessa Bell. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2006

www.lonsea.de/pub/person/11381

projects.au.dk/inventingbureaucracy/blog/show/artikel/murder-intrigue-sex-and-internationalism-novels-about-the-league-of-nations/

natalia.org.za/Files/36-37/Natalia%2036-37%20Notes%20pp69-73%20C.pdf

www.thefreelibrary.com/23+Handwritten%3A+July+31%2C+1928-a0248264160

en.wikipedia.org/wiki/Trekkie_Parsons

www.goldwasserbooks.com/dl.php?file=/images/... Thomas A. Goldwassers Rare Books / PDF Hogarth 2018

www.artefacts.co.za/main/Buildings/archframes.php?archid=1464

www.modernistarchives.com/search/node/Alice%20Ritchie

genome.ch.bbc.co.uk/ Search: "Alice Ritchie"

Angus Davidson und Alice Ritchie im September 1932 zu Besuch bei den Woolfs in Monks House, Rodmell, Sussex



In "Snapshots of Bloomsbury" von Maggie Humm sind etwa 1000 Fotos aus den sieben Monks Haus Alben (MH1 - MH7) abgebildet; die Harvard University digitalisierte die Alben (Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Mass.)


Alice Ritchie - Veröffentlichungen (Auswahl):

The Peacemakers. Hogarth Press, London 1928 / unter dem Titel "The Molehill": G. P. Putnam's Sons, New York 1929

Occupied Territory. Hogarth Press, London 1930

The Treasure of Li-Po. Illustrated by Trekkie Ritchie. Hogarth Press, London 1948 / Harcourt, Brace & World, New York 1949 / Bodley Head Childrens Books, 1968

"Two of Everything" aus "The Treasure of Li-Po" in: Stories of Fun and Adventure. Book Two. The Copp Clark Publishing Company, Vancouver - Toronto - Montreal 1966


Bildnachweis:

Alice Ritchie: iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/ids:17948496

Angus Davidson: iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/ids:17948495

Die Fotos sind auch enthalten in:

Maggie Humm: Snapshots of Bloomsbury. The Private Lives of Virginia Woolf and Vanessa Bell. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2006 ("fair use").


Helga Kaschl: Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2022

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