FREDA UTLEY

23. Jänner 1898 – 21. Jänner 1978

 

Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Korrespondentin

 

 

Winifred (Freda) Utley wurde in London (1 King's Bench Walk, Temple) geboren und wuchs gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Basil Temple (1895–1935) in einer aufgeschlossenen, freidenkerischen und sozialistischen Familie auf, in der Geschichten und Legenden  über Revolution, Freiheit und Heldentum eine große Rolle spielten. Ihre Mutter Emily (Williamson) Utley (1865–1945) kam aus einer wohlhabenden Manchester Familie und ging nach London, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen; sie heiratete gegen den Willen der Eltern heimlich Willie Herbert Utley (1866–1918), Journalist bei der liberalen Zeitung Star and Morning Leader und Mitarbeiter von Saturday Review; er war mit George Bernard Shaw befreundet, mit Sidney und Beatrice Webb, und stand der Fabian Society nahe, deren Sekretär er auch einige Zeit war.

Freda wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf - ihr Vater war neben seiner journalistischen Tätigkeit auch Vermögensberater - und lebte mit ihrer Familie in Hampstead (67 Finchley Road und 33 St. Johns Wood Park); sie wurde zunächst von HauslehrerInnen privat unterrichtet und besuchte dann gemeinsam mit ihrem Bruder  eine Knabenschule (Peterborough Lodge, Finchley Road).

Nachdem bei ihrem Vater 1907 eine Tuberkuloseerkrankung festgestellt wurde, ging die Familie in die Schweiz (Arosa) und bereiste in den Sommermonaten Italien und Frankreich. Freda besuchte ab 1909 die Internatsschule La Combe in Rolle am Genfer See - "die glücklichste Zeit meines Lebens" - und danach für vier Jahre eine Schule in Priors Field in Surrey - "die unglücklichste Zeit".

1918 starb ihr Vater, die Familie hatte nur mehr ein geringes Einkommen und Freda konnte nicht das geplante Studium an der University of Cambridge beginnen; um Geld zu verdienen, begann sie im Kriegsministerium zu arbeiten und lebte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Temple in äußerst sparsamen Verhältnissen.

1920 begann sie mit einem Stipendium an der London University zu studieren und beendete 1925 das Studium der Wirtschafts-und Staatswissenschaften am King's College mit einer Magisterarbeit über die Wirtschaftsgeschichte des späten Römischen Reiches; zwischen 1925 und 1928 hatte sie ein Forschungsstipendium an der London School of Economics; sie arbeitete zunächst über die Produktionsbedingungen in der Textilindustrie von Lancashire und begann dann, sich mit japanischen und indischen Unternehmen zu beschäftigen.

Während des Studiums engagierte sie sich politisch, wurde Sekretärin der King's College Socialist Society und später Vorsitzende der London University Labour Party. Ihr Bruder studierte mit einem Stipendium aus dem Offiziers-Fonds an der London University Journalismus und machte danach eine Ausbildung zum Arzt an der St. George's Hospital Medical School. Da aber beide Stipendien nicht für den Lebensunterhalt der Familie ausreichten, begannen die Geschwister Englischunterricht für Ausländer zu geben: Freda unterrichtete Mitarbeiter der sowjetischen Handelsvertretung in Großbritannien und kam erstmals mit sowjetischen Beamten in Kontakt; durch einen ihrer Schüler, der nach der Revolution 1905 ins Exil gehen musste, lernte sie Deutsch und die Marxistische Theorie. Hier lernte sie auch ihren späteren Ehemann Arcadi Berdichevsky kennen, der in Zürich studiert hatte, dann in die USA gegangen war und 1920 für die sowjetischen Regierung Wirtschaftsexpertisen für die sowjetische Handelsvertretung erstellte.

Freda Utley bewunderte die Sowjetunion, begann an der Independent Labour Party, deren Mitglied sie war, zu zweifeln und näherte sich der Communist Party. Nachdem sie als Vizepräsidentin der University Labour Federation 1927 die Sowjetunion besucht hatte, trat sie 1928 der Kommunistischen Partei von Großbritannien bei.

Sie heiratete Arcadi Berdichevsky, der nach Schließung der Handelsvertretung durch die britischen Behörden des Landes verwiesen wurde. Die beiden reisten im Auftrag der Kommunistischen Internationale mit Geheimaufträgen neun Monate durch Sibirien, China und Japan und wurden schließlich nach Moskau zurückgerufen. Freda bekam einen Sohn, Jon Basil, und arbeitete als Forscherin an dem von Eugene Varga geleiteten Institut für Weltwirtschaft und Politik an der Akademie für Wissenschaften in Moskau; in dieser Zeit konnte sie Einblicke sowohl in Lebens- und Alltagssituationen als auch in das Gesellschaftssystem des Landes bekommen wie kaum jemand zuvor. Sie erkannte die Schattenseiten der kommunistischen Politik, sah die Ängste der gewaltsam zum Schweigen gebrachten Menschen und begann sich davon abzuwenden; auch persönliche Erlebnisse wie schlechte Erfahrungen im Krankenhaus oder Schwierigkeiten bei der Unterbringung desillusionierten sie. Kurz nachdem sie endlich eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen hatten, wurde Arcadi nach einer Hausdurchsuchung vom KGB verhaftet - Freda sah ihn nicht wieder. Arcadi Berdichevsky wurde nach Vorkuta, einem Arbeitslager nördlich des Polarkreises deportiert, wegen trotzkistischer Ansichten verurteilt und im März 1938 hingerichtet, weil er einen Hungerstreik der Häftlinge organisierte. Sein Sohn konnte viele Jahre später Einsicht in die Verhörprotokolle nehmen; es stellte sich heraus, dass die schlimmsten Befürchtungen seiner Mutter sich bewahrheitet hatten: auch ihre manchmal unvorsichtigen Äußerungen haben zu seiner Verhaftung beigetragen.

Freda Utley flüchtete nach der Verhaftung ihres Mannes und nach erfolglosen Versuchen, seinen Aufenthalt heraus zu finden, mit ihrem zweijährigen Sohn nach England.

1938 ging sie für drei Monate als Korrespondentin von The News Chronicle nach China und besuchte die chinesisch-japanischen Kriegsfront.

Nachdem sie die Hoffnung auf Freilassung ihres Mannes aufgegeben hatte und an seinen Tod glaubte, wanderte sie 1939 mit ihrem Sohn und ihrer Mutter in die USA aus. Durch ihre negativen und schrecklichen Erfahrungen in der Sowjetunion änderte sich ihre politische Einstellung radikal; sie wurde zu einer Aktivistin gegen den Kommunismus und unterstützte sogar Joseph McCarthy in seiner antikommunistischen Kampagne, indem sie ihm Sympathisanten nannte.

1940 wohnte Freda Utley mit ihrer Mutter Emily und ihrem Sohn Jon in Baltimore (5203 Roland Avenue). Um für sich und ihre Familie den Lebensunterhalt zu verdienen, übernahm sie diverse Beratungstätigkeiten: so wurde sie von 1940 bis 1944 Wirtschaftsberaterin für Starr, Park and Freeman Inc., New York, beriet die Abteilung Politik in Princeton (1941–1957) und die Chinese Supply Comm. (1944–1945). Von 1945 bis 1946 arbeitete sie als Korrespondentin von Readers Digest in China und 1948 in Deutschland. 1950 bekam sie die US-Staatsbürgerschaft.

Im Dezember 1978 starb Freda Utley an einem Schlaganfall in Washington D.C. (Georgetown University). Ihr schriftlicher Nachlass wird im Archiv der Hoover Institution in Stanford / Kalifornien aufbewahrt. Ihr Sohn Jon Basil Utley, seit 1998 Vorsitzender von Americans against World Empire, startete 2001 eine Website in Erinnerung an seine Mutter (fredautley.com) und machte damit ihre Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich; 2005 stiftete er den Freda Utley Prize for Advancing Liberty.

 

Bertrand Russell, ein guter Freund Freda Utleys,  schätzte ihren umfassenden intellektuellen Verstand, der sich - verbunden mit einem tiefen und aufrichtigen Gefühl - in ihren Schriften ausdrückte; damit konnte sie die Aufmerksamkeit ihrer LeserInnen genauso intensiv wie für einen großen Roman gewinnen.

Bereits mit ihrem ersten Buch "Lancashire and the Far East" (1931) konnte sich Freda Utley als Expertin für den internationalen Baumwollhandel einen Namen machen.

Im Februar 1934 erschien in der Hogarth Press "From Moscow to Samarkand" in einer Auflage von 1200 Stück, im März wurde bereits eine zweite Auflage gedruckt; in dem mit Fotos illustrierten Buch schildert Freda Utley ihre dreimonatige Reise von Moskau nach Usbekistan (Ferghana, Samarkand, Buchara) und Kirgistan. Da sie zu dieser Zeit in Moskau lebte, erschien das Buch aus Sicherheitsgründen unter dem Pseudonym Y. Z.

"Japan's Feet of Clay" (1937) ist eine detaillierte Studie über die japanische Textilindustrie und über die Eigenarten der japanischen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen; das Buch wurde zum Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt, obwohl Kritiker fachliche Ungenauigkeiten und eine negative Einstellung gegenüber Japan feststellten. Der Politikwissenschaftler Harold J. Laski schrieb dazu die Einleitung, ebenso wie für das 1938 erschienene Buch "Japan's Gamble in China", in dem sie sich hauptsächlich mit Ursachen und möglichen Entwicklungen des Japanisch-Chinesischen Krieges beschäftigt.

1938 gab Freda Utley gemeinsam mit ihrer Mutter Emily die Geschichte einer Segelreise ihres Bruders Temple heraus, der 1930 mit seinem Boot von Cornwall über Spanien, die Kanarischen Inseln, die Westindischen Inseln, den Panama Kanal in den Pazifik segelte und auf den Fidschi Inseln als Arzt arbeitete, wo er 1935 an einer Infektion starb.

Mit "China at War" (1939), entstanden nach einem Besuch in China, versucht Freda Utley, die Eindrücke dieser Tragödie zu vermitteln, idealisierte aber auch die chinesischen Kommunisten in der Hoffnung, dadurch eine Freilassung ihres Mannes bewirken zu können.

Die persönlichen Erlebnisse während ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion verarbeitete sie in "The Dream We Lost. The Soviet Union Then and Now" (1940); darüber hinaus beschäftigt sie sich darin auch mit der Frage "Was ist Sozialismus?", mit neuen Methoden der Ausbeutung, der Zwangsarbeit und vergleicht die wirtschaftlichen und politischen Organisationen von Nazideutschland und der Sowjetunion. Zu "Lost Illusion" (1948), einer überarbeiteten Ausgabe von "The Dream We Lost", schrieb der Journalist und Schriftsteller John P. Marquand die Einleitung; Marquand und seine Frau Adelaide waren gute Freunde von Freda Utley, die ihr in den ersten schwierigen Jahren in den USA zur Seite standen.

In "Last Chance in China" (1947) kritisierte sie die Waffenlieferungen der westlichen Welt an die chinesischen Nationalisten, wodurch ihrer Meinung nach der Sieg der Kommunisten unterstützt wurde. Das im folgenden Jahr erschienene Buch "Cost of Vengeance" (dt. "Kostspielige Rache"), das mit Hilfe eines Forschungsstipendiums der Foundation for Foreign Affairs entstanden ist, wurde z. T. scharf verurteilt, da sie Aktionen der alliierten Besatzungsmächte mit den Verbrechen der Nationalsozialisten verglich.

Nach dem Bestseller "The China Story" (1951) veröffentlichte sie 1957 "Will the Middle East Go West?", ihr letztes Sachbuch, in dem sie davor warnte, durch Unterstützung Israels die arabischen Staaten in den Einflussbereich Russlands zu bringen.

1970 erschienen Freda Utleys Lebenserinnerungen "Odyssey of a Liberal", in denen sie ihre Kindheit, die Studienzeiten, ihr Leben mit Arcadi Berdichevsky in Moskau und ihre Reisen bis 1945 schildert.


Literatur- und Quellenverzeichnis:

J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986

Odyssey of a Liberal: Memoirs. Washington National Press, Inc., 1970 / archive.org/details/odysseyofliberal00utle

The Dream We Lost. The Soviet Union Then and Now. The John Day Company, New York 1940 / www.fredautley.com/pdffiles/book06.pdf

Hugh Cortazzi (Ed.): Britain & Japan. Biographical Portraits, Band 4. Routledge, 2002

A. M. McBriar: Fabian Socialism and English Politics. 1884–1918. CUP Archive, 1966

Francis Beckett : Stalin's British Victims. The Story of Rosa Rust. The History Press, 2004

fredautley.com/

www.fredautley.com/Farnie.htm

www.executedtoday.com/tag/freda-utley/

www.ancestry.com/1940-census/usa/Maryland/Freda-Utley_57f4pd

en.wikipedia.org/wiki/Freda_Utley

www.theguardian.com/books/2005/nov/04/usa.politics

www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2461404/?page=1

Freda Utley (1943) / Arcadi Berdichevsky

Freda Utley 1938 in China am Weg zur Kriegsfront



Freda Utley - Veröffentlichungen (Auswahl):

Lancashire and the Far East. George Allen & Unwin, London 1931 / www.fredautley.com/pdffiles/book22.pdf

Anonym, als YZ: From Moscow to Samarkand. Hogarth Press, London 1934 / archive.org/details/in.ernet.dli.2015.85133/page/n7

Japan's Feet of Clay. Faber and Faber, London 1937 / W. W. Norton, New York 1937 / www.fredautley.com/pdffiles/book17.pdf

"Germany and Japan". In: The Poltical Quarterly, Vol. 8, Issue 1, January 1937

Japan's Gamble in China. Secker and Warburg, London 1938 / www.fredautley.com/pdffiles/book21.pdf

Editor with Emily Utley: A Modern Sea Beggar, by Temple Utley, Peter Davies, London 1938

China at War. Faber and Faber, London 1939 / www.fredautley.com/pdffiles/book19.pdf

The Dream We Lost. The Soviet Union Then and Now. The John Day Company, New York 1940 / www.fredautley.com/pdffiles/book06.pdf

Last Chance in China. Bobbs-Merrill Company, New York 1947 / www.fredautley.com/pdffiles/book24.pdf

Lost Illusion. Revision of The Dream We Lost. George Allen & Unwin, London 1948 / Henry Regnery Company, Chicago 1948 / www.fredautley.com/pdffiles/book18.pdf

The High Cost of Vengeance. Henry Regnery Company, Chicago 1949 / dt.: Kostspielige Rache. Fritz Schlichtenmayer Verlag, Tübingen / www.fredautley.com/pdffiles/book01.pdf

The China Story. Henry Regnery Company, Chicago 1951 / dt.: Drama China. Hintergründe einer Katastrophe. Pohl & Co., München 1951

Will the Middle East Go West? Henry Regnery Company, Chicago 1957 / www.fredautley.com/pdffiles/book04.pdf

Odyssey of a Liberal: Memoirs. Washington National Press, Inc., 1970 / archive.org/details/odysseyofliberal00utle


Bildnachweis:

Freda Utley 1943:

en.wikipedia.org/wiki/File:Freda_in_1943.jpg#filelinks

Arcadi Berdichevsky:

www.executedtoday.com/2010/03/30/1938-arkadi-berdichevsky-jon-freda-utley/

Freda Utley 1938 in China:  Aus: China at War, 1939


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